Als wir aufwachen, herrscht auf dem Schiff schon reger Betrieb. Scheinwerfer der Hafenanlage leuchten in unseren Stateroom, man hört Fahrzeuge hin- und herfahren, laute Rufe der Hafenarbeiter und leises Klirren irgendwelcher Ketten. Wir sind in Southampton angekommen!

Der erste von zwei Landgängen steht an. Zur Auswahl hatte eine ganze Reihe von Ausflügen gestanden, von denen wir uns für den Titanic Trail entschieden haben, im Bestreben, zusätzliche Informationen zu jenem berüchtigten Untergang vermittelt zu bekommen. Da wir uns heute etwas beeilen müssen, verzichten wir auf das Breakfast im Britannia und verpflegen uns auf Deck 7. Hier gibt’s eine riesengrosse „Verpflegungsstation“, eine Art Grossküche, in der sich der Passagier nach Belieben und während des ganzen Tages durch eine unfassbare Auswahl an Speisen hindurchkämpfen kann: es gibt Brötchen aller Art, Marmelade, Rühr- und Spiegelei, gedämpfte Tomaten, ziemlich übel aussehende, fettglänzende Würste aller Längen und Querschnitte, Ham and Bacon, eingelegte Früchte, Joghurte in sämtlichen denkbaren Geschmacksrichtungen, rohes und gedämpftes Gemüse und damit ist die Aufzählung noch lange nicht vollständig, da aber das Erinnerungsvermögen des Autors besonders frühmorgens beschränkt ist, muss an dieser Stelle die Fantasie weiterhelfen. Dieses Fressparadies ist zwar ausserordentlich praktisch, auch, weil es den ganzen Tag zur Verfügung steht (kostenlos übrigens) – es ist dafür aber nicht wirklich gemütlich, da man sehr eng auf eng sitzt, pausenlos Küchenpersonal mit laut polternden Wagen und schepperndem Geschirr vorbeiziehen und der Geräuschpegel zusätzlich erhöht wird durch die sehr zahlreich anwesenden Schnellesser, die wie wir noch schnell ein Häppchen herunterdrücken, bevor sie anschliessend ihr Tagesprogramm starten. Ausserdem wird man ständig gefragt, ob man noch einen Kaffee oder einen Tee haben möchte (diese Getränke sind seltsamerweise nicht in Selbstbedienung zu haben), was zwar nett gemeint, der Gemütlichkeit aber eher abträglich ist.

Nun, wir schaffen es selbstverständlich, rechtzeitig die letzten Gipfelibrösmeli aus dem Gesicht zu wischen, die Hände an einer der unglaublich zahlreich aufgestellten Desinfektionsgeräte zu entschärfen (die Angst vor dem Norovirus ist gross auf dem Schiff) und uns im Pub zur Gruppenbildung zu treffen. Wir gehören zur Gruppe Brown 8 und bekommen alle einen Kleber verpasst, den wir auf die Kleidung heften und danach einer Tourführerin hinterher jagen müssen. Doch zuerst gilt es, das Disembarkment vom Schiff in aller Genauigkeit durchzuführen, die Schiffs-ID muss gezeigt werden, damit die Besatzung weiss, wer das Schiff verlassen hat, und dann geht’s los in den grauen Morgen. Der Himmel ist eher bedeckt und es nieselt leicht, immerhin sind die Temperaturen angenehm. Eigentlich denke ich, dass wir unterwegs sind zu einem Bus, doch weit gefehlt, wir sind ausschliesslich zu Fuss unterwegs und das ziemlich lange (bestimmt über anderthalb Stunden). Unser Tour-Guide wird nicht müde, uns darauf hinzuweisen, dass die Autos von rechts und nicht von links daherkommen und dass sie keinesfalls anhalten, sondern jeden Gegner plattfahren würden und bei jeder Strassenüberquerung (es waren deren viele!) reisst sie ihre Tafel mit der braunen 8 in die Höhe, damit wir wissen, wo wir wann das quasi lebensgefährliche Abenteuer der Strassenüberquerung in Angriff nehmen dürfen. Na ja, etwas weniger Dramatik würde auch reichen, aber ok.

Unsere bunt zusammengewürfelte Truppe besteht offenbar nicht ausschliesslich aus gut erzogenen, durchtrainierten und folgsamen Lehrlingen und zieht sich immer wieder ganz schön in die Länge, bis sie dann durch die Lady wieder zusammengetrommelt wird. Wir marschieren an ziemlich herunter gekommenen, verwitterten Häusern vorbei, durch düstere Industrieanlagen, der Tour Guide zeigt uns durch eine geschlossene Tür hindurch eine geschwungene Treppe, die dem Architekten der Titanic als Vorbild für den Aufgang in jenem Schiff gedient haben soll, wir kommen an Häusern vorbei, denen man ansieht, dass sie die besten Tage ganz sicher bereits hinter sich haben müssen und die vor 100 Jahren den Arbeitern auf der Titanic Unterkunft geboten haben.

Sie erzählt uns auch von der damaligen Aufbruchsstimmung – denn 1912 gab es in Southampton einen Kohlestreik, praktisch kein Schiff konnte mehr ausfahren und die vielen armen Arbeiter der Stadt sahen sich mit Arbeitslosigkeit und einer düsteren Zukunft konfrontiert, als plötzlich die Nachricht von einem ganz neuen, besonders grossen Schiff, nämlich der Titanic, die Runde machte und eine ungeheure Aufbruchsstimmung entstand – endlich wieder Arbeit, vielleicht nur für eine kurze Zeit, aber immerhin. Dieses Stimmungsbild zeichnet sie sehr lebendig und anschaulich und man kann sich tatsächlich ein Stück weit hineindenken in die damalige Zeit (und dabei gleichzeitig zum Hafen hinüberblicken, wo die Queen Mary 2 satt, zufrieden und mit dem vollen Angebot an verschwenderischem Luxus auf uns wartet). Aber die Gebäude, die uns gezeigt werden, versprühen wenig Charme und animieren kaum zu irgendwelchen Fragen – wir marschieren unentwegt von Strasse zu Strasse, durch infernalischen Strassenlärm und viel Hektik. Zudem fängt es an zu regnen: ein älterer Amerikaner und ich haben als einzige keine Kopfbedeckung, Mist, aber was soll’s, da müssen wir jetzt halt durch. Der Regen lässt auch bald wieder nach und macht ein paar schüchternen blauen Störungen Platz. Wir marschieren. Die Truppe zieht sich in die Länge und unsere Gesichter wohl auch. Dann, nach knapp zwei Stunden erreichen wir das Titanic-Museum. Dort erfahren wir aber kaum etwas Neues, englisches Geld haben wir auch nicht dabei für ein Käffchen und das WC erinnert bedrohlich an vergangene Zeiten – oder ist das vielleicht Teil der Ausstellung und gar nicht zur Verwendung gedacht?

Punkt fünf vor zwölf trifft uns der Tour Guide beim Ausgang des Hotels wieder und nach etwa 10 Minuten Fussmarsch können wir mit dem Bus zum Schiff zurück fahren, erschöpft und nur mässig begeistert. Wahrscheinlich sind wir einfach verwöhnt. Wieder werden wir durchgecheckt, müssen Gürtel und teilweise Schuhe ausziehen, metallische Gegenstände aufs Band legen, in grimmige Gesichter schauen und hoffen, dass wir Unschuldslämmer nicht verhaftet werden, ganz genau gleich wie am Flughafen. Home again! denken wir instinktiv, als wir wieder auf der Gangway zum Schiff sind und uns auf den Weg zum Deck 6 machen, wo unser Stateroom ist.

Nachdem Verena am Vormittag zufällig Max und Annemarie über den Weg gelaufen ist und sich mit ihnen für den Nachmittag verabredet hat, treffen wir die beiden im King Lion Pub, wo wir die ersten (kleinen) San Miguels zu uns nehmen und dabei völlig die Zeit vergessen.

Peinlich, dass wir schon wieder „zu spät“ sind – aber einmal mehr wird uns das nicht zum Vorwurf gemacht. Es besteht ja auch gar kein Zwang, zu einer bestimmten Zeit am Tisch zu sitzen, nur eben, manchmal fühlt sich der Eine oder die Andere dann bemüssigt, mit dem Hauptgang zu warten, bis alle die Vorspeise gegessen haben. Aber egal, es wird auch so eine gemütliche Runde.

Nur bin ich bereits etwas entkräftet und daher froh, bald schon aufbrechen zu können zum Konzert des weltbekannten (?) Klarinettisten Kenny Martin, zusammen mit dem Orchester „Royal Court Theatre Company“ die uns einen feurigen Abend mit Swing im Stile von Benny Goodman bieten und nahtlos schliesst sich daran eine absolut amerikanische Show an, die wir, doch schon etwas müde, gar nicht mehr ganz mitbekommen.

Woher wir eigentlich immer wissen, was wo wann los ist? Jeden Tag wird ein gedrucktes Programm mit einer Vielzahl von Aktivitäten verteilt, aus denen man nach Belieben einfach auswählen kann, was Spass machen könnte, alles gratis, alles ganz ohne Zwang. Luxus pur!

And so to bed.