Das Frühstück, da nicht mehr durch übertriebene Erwartungen getrübt, schmeckt vorzüglich und wir machen uns schon recht früh auf den Weg in den Grossstadtdschungel, diesmal (ich) im weissen Hemd (auf der QM2 dreimal getragen), da die T-Shirts langsam ausgehen und wir uns nicht die Mühe machen wollen, eine Laundrette zu suchen und überhaupt ist heute Sonntag und da darf man ja wohl auch mal etwas overdressed daherkommen, ganz besonders, wenn wir bedenken, dass ja genug Einheimische sehr eigenwillige Outfits für völlig normal ansehen – wir begegnen halbnackten jungen Girls genauso wie maskierten Baseball-Terroristen oder durchtrainierten Wikingern. Kaum haben wir das Hotel verlassen und den Bryant-Park betreten, befinden wir uns in einem Food-Festival, überall köchelt, dampft und brutzelt es wahnsinnig verlockend – da wir aber gerade eben wertvolle Kost zu uns genommen haben, widerstehen wir den zahlreichen Versuchungen mit je einem harmlosen, schulterzuckenden Lächeln, atmen tief durch, lauschen den unterschiedlichsten musikalischen Darbietungen

und lassen unsere Blicke schweifen zu den unerreichbaren Spitzen der vielen Wolkenkratzer, welche den kleinen Park umsäumen.

Wir sind auf dem Weg zur Grand Central Station, weil wir uns im Guggenheim-Museum an der 89. Strasse kulturell erlaben möchten. Doch so einfach ist das nicht: plötzlich kommt uns ein Demonstrationszug in die Quere, polnische Veteranen marschieren stolz die 5th Avenue herunter,

einige, wahrscheinlich die besonders tapferen und daher besonders lädierten, lassen sich hoch auf mehreren Wagen umjubeln. Den genauen Sinn und Zweck der Veranstaltung können wir leider nicht erkennen, aber wie so oft ist das wahrscheinlich eine vollständig europäische und deshalb absolut überflüssige Sinnfrage, denn kaum sind die stolzen Helden an uns vorbeidefiliert, kommt uns eine unendlich lange, unwahrscheinlich laute, stinkende, johlende, ausgeflippte Horde von mehreren hundert Harley-Fahrern entgegen, die irgendwie, vielleicht eher unverbindlich, mit den Polen in Verbindung zu stehen scheinen.

Es stinkt erbärmlich nach Abgasen, die Luft erzittert durch die Kraft der unglaublich vielen, schweren Motorräder und je länger die kecken Jungs, manchmal umgarnt durch weniger schwere Girls (von leichten Mädchen wollen wir an einem Sonntag niemals sprechen) an uns vorbeistottern, desto stärker wird mein Wunsch nach noch mehr Krach, Motorengewalt, Ausgelassenheit und Freveltum. Doch ach, natürlich geht die Prozession irgendwann zu Ende, doch was danach kommt, ist ja schon auch eine Erwähnung wert: plötzlich fahren Trabbis, ein Fiat 500 oder ein alter Rolls Royce an uns vorbei – eine äusserst seltsame Mischung exotischer Elemente, die aber einen sehr erheiternden Effekt auf uns ausüben.

Gänzlich entspannt spazieren wir weiter zur Grand Central Station,

die 1913 eröffnet wurde und nehmen dort selbstbewusst die Subway bis zur 86. Strasse, wandern noch ein Stück hoch der 5th Avenue entlang und stehen plötzlich vor der eigenwilligen Architektur in Form eines weissen Schneckenhauses.

Nix wie rein, ohne jede Ahnung davon, was uns erwarten würde, was uns aber nicht davon abhält, bei einer Menschenschlange anzustehen, die sich über die letzten beiden Schleifen nach oben quält. Wenn so viele Menschen so eine lange Wartezeit in Kauf nehmen, so unser durchtriebener Gedanke, muss es auch etwas zu sehen geben. So war es denn auch, allerdings nicht ganz wie erwartet: oben angelangt, auf dem Olymp der Kunst gewissermassen, empfängt uns ein einziger, gar nicht so grosser Raum, der dem Thema der Ermordung eines Sprayers (Michael Stewart), durch zwei New Yorker Polizisten gewidmet ist. Die Bilder sind zwar teilweise sehr eindrücklich und schockierend,

aber da wir dieses Thema in keiner Weise erwartet haben, kommt es etwas plötzlich und abrupt auf uns zu und bestimmt erweisen wir der Ausstellung leider nicht den gebührenden Respekt. Wieder geht es den Schneckengang herunter, an wunderlichen Leuten

und recht hübschen Bildern vorbei

(ok, ich geb’s ja zu, mein Ding ist die Malerei nicht, vielleicht auch, weil ich mich nie damit befasst habe und von nichts eine Ahnung habe) und wir erholen uns in einer Cafeteria bei einem Sauvignon Blanc. Aus der Büchse!!

Und das in diesem Kulturtempel … nun ja, ich sag‘ ja gar nichts. Ausserdem schmeckt er gar nicht mal sooo übel und in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen – wahrscheinlich würde er auch Büchsenwein trinken. Wir verlassen das Museum also frisch gestärkt und lebhaften Schrittes, denn wir haben ein wichtiges Ziel vor Augen: schauen, wo Nadine so wohnt. Oder gewohnt hat. Hm, nein, einfach mal schauen, wie es da aussieht, völlig unverbindlich. Denn Nadine ist eine meiner grossen verflossenen Lieben, 1978 habe ich sie in Barcelona am Bahnhof getroffen, war dann 1981 einmal bei ihr in New York und höre seither nur sehr sporadisch etwa via Facebook von ihr. Wie gesagt, alte Geschichten aufwärmen wollen wir nicht (wir trauen uns nicht), aber das Gefühl, inkognito die Strassen und die Gegend abzuwandern, wo sie mindestens früher einmal gewohnt hat, ist schon aufregend. Ich habe ihr absichtlich nicht mitgeteilt, dass wir nach New York kommen würden (Feigheit vor dem Freund) und ich überlege hin und her, ob wir dann vielleicht nicht doch klingeln sollten, wenn wir vor ihrem Haus stehen … doch zum Glück kommen wir zuerst zum „Museum of the City of New York“, das uns von Nicki wärmstens empfohlen worden ist und obwohl wir nur noch eine Stunde Zeit haben, bis es schliesst, gehen wir da rein und schauen uns um, so gründlich wie es die Zeit halt noch zulässt. Man könnte problemlos einen ganzen Tag hier verbringen, es gibt so viel zu lesen, anzuschauen und auszuprobieren (Verena bewährt sich sehr als Telefonistin)

und es wäre ohne jeden Zweifel hochinteressant, sich mit der Geschichte New Yorks auseinanderzusetzen, die hier in vielen akustischen und bildhaften Zeitdokumenten festgehalten ist. Immerhin haben wir einen ersten, sehr positiven Eindruck dieses Museums gewonnen und vielleicht fahren wir ja noch einmal da hin.

Aber jetzt haben wir ja unsere Mission zu erfüllen und wir marschieren, marschieren und marschieren und wenn wir gewusst hätten, wie weit der Weg zu Nadines Haus, dessen Adresse wir natürlich aus Gründen der Diskretion nicht verraten dürfen, sein würde, hätten wir unseren Plan mangels Kondition wahrscheinlich aufgegeben. Da wir das aber nicht wissen, geben wir nicht auf, und obwohl es langsam eindunkelt, wir uns in Harlem befinden und erste Regentropfen vom Himmel fallen, gehen wir weiter, die Strasse hört plötzlich auf, doch Verena findet einen Workaround um ein kleines Pärkchen herum und einen Hügel hinauf, dann wieder hinunter, geradeaus, fünfzehnmal links und zweiunddreissig mal rechts und da stehen wir: inzwischen ist es stockdunkel, es regnet, aber wir sind am Ziel und wir stehen vor einem stattlichen Haus mit beleuchteten Namensschildchen neben den Klingelknöpfen und mit einer gewissen inneren Erregung, die ich selbstverständlich niemals zeigen oder zugeben würde, überfliegen meine müden Augen alle Namen – keine Nadine. Puuh, zum Glück!

Denn das nimmt uns die Entscheidung ab, vielleicht doch noch klingeln zu wollen. Immerhin weiss ich jetzt, dass die heutige Prorektorin hier während einer langen Zeit gewohnt und mir viele lange Briefe geschrieben hat.

Nun, eigentlich hat meine Internetsuche ja drei verschiedene Adressen zu Tage gefördert und wir (ich) habe(n) uns nur deshalb auf diese eine Adresse kapriziert, weil ich diese in elektronischer Form (iPhone) vor mir habe. Doch die anderen beiden wären genauso realistisch und nur einen Block entfernt … Nein, jetzt ist es genug. Ich werde ihr nach unserer Rückkehr schreiben und ihr sagen, dass … sie wird es schrecklich bedauern und ich hätte doch und es wäre sooooo schön gewesen.

Wir finden ganz in der Nähe Unterschlupf in der Trattoria Tartina, wo wir einmal mehr italienisch essen, supertolles Bier trinken und wieder etwas zu Kräften kommen.

Da genau der Subway-Zugang, den wir eigentlich benützen wollen, wegen Bauarbeiten gesperrt ist, schlägt Verena vor, den Bus zu nehmen, der just im richtigen Moment heranfährt, denn wir wissen nicht ganz genau, in welcher Richtung sich die nächste U-Bahn-Station befindet und diese können ziemlich weit auseinander liegen. Nachdem uns die Lady am Steuer versichert hat, dass sie zum Times Square fahren würde, lassen wir uns auf die Sessel plumpsen und staunen, wie unsere Fahrerin ihren Bus mit ungeheurer Präzision und Behendigkeit durch das Verkehrsgetümmel lenkt, an allen Hindernissen vorbei, ohne jeden Kratzer und ohne auch nur einen einzigen Fahrradfahrer in die Büsche zu katapultieren.

Auf dem Weg zu unserem Hotel kommen wir wieder an einigen sehr bemitleidenswerten Gestalten vorbei. Teilweise stehen sie einfach reglos da, mit vornüber geneigtem Kopf, so dass sie jederzeit irgendwann umkippen und auf dem Pflaster aufschlagen könnten, manchmal liegen sie mit halb heruntergelassenen Hosen auf dem Trottoir und es ist nicht immer klar, ob sie schlafen, sich auskotzen oder schon tot sind … kein schöner Anblick, aber ich denke, wenn einem diese Schicksale unter die Haut gehen und eine Art des schlechten Gewissens entsteht oder das Gefühl aufsteigt, diesen Menschen irgendwie helfen zu müssen, dann lässt es sich in einer Stadt wie New York, in der extreme Gegensätze auf kleinstem Raum aufeinanderprallen, nicht leben.