Wir Wahnsinnigen stellen den Wecker auf 3:30 Uhr, um die Ankunft in New York und die Durchfahrt unter der Verrazzano-Brücke, die Staten Island mit Brooklyn verbindet, nicht zu verpassen. Ja, tatsächlich, es ist fast unglaublich, nach so langer Zeit auf dem Atlantik sehen wir doch wirklich wieder Land, Häuser, Lichter und Autos, die sich bewegen. Wir staunen zusammen mit vielen anderen begeisterten Frühaufstehern, die zum Deck 7 oder ganz nach oben eilen, um möglichst nichts zu verpassen – die Fotoapparate sind gezückt. Majestätisch gleitet unsere Königin durch den East River, die Luft ist angenehm warm und eine Stimmung der gespannten Erwartung schon fast körperlich greifbar. Klick, klick, die Brücke ist im Kasten und wir entscheiden uns nun doch noch für etwas zusätzlichen Schlaf.

Doch vorher will ich noch ein technisches Problem lösen: aus mir schleierhaften Gründen verlangt mein iPhone die Eingabe des Apple-ID-Passwortes, um irgend etwas upzudaten, doch wie sehr ich mich auch bemühe, diese Info einzutippen, alles ist vergeblich, das graue Zahnrad mit dem roten Fleck grinst mich höhnisch an und meint, bei der Anmeldung beim Apple-Server sei etwas schief gegangen. Wie ist das möglich? Ich kenne doch mein Passwort, oder ist die Senilität nun doch schon weiter fortgeschritten, als mir bewusst ist? Verena hat mit ihrem uralten iPhone 7 ohne jede Probleme Verbindung über die mobilen Daten, ist auf das teure Schiffs-WLAN also nicht mehr angewiesen und ich stehe mit meinem Model X halbnackt da, abgeschnitten von der Welt, mit einem unbrauchbaren Stück Hightech aus Metall und Kunststoff, das ich genauso gut über Bord werfen könnte. Ich werde mich nicht online für den Rückflug einchecken können, falls ich überhaupt jemals wieder nachhause komme, habe keinen Zugriff mehr auf Reisedokumente und werde meine ganze Energie darauf verwenden müssen, die Sache einigermassen wieder in den Griff zu bekommen – ein Albtraum sondergleichen, vielleicht rächt sich jetzt meine Technikgläubigkeit und will mir gnadenlos eins auswischen – grauenhaft.
Noch am Vorabend sind die Pläne für ein geordnetes Verlassen des Schiffes verteilt worden. Deck für Deck ist gehalten, sich zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Sammelpunkt zu begeben und dann dort von Bord zu gehen. Da wir erst um 10:50 Uhr drankommen, haben wir noch reichlich Zeit für ein letztes Frühstück im Britannia. Heute sind die Kellner ganz besonders freundlich – vielleicht freuen sie sich darauf, dass wir endlich neuen Passagieren Platz machen? Das Schiff wird ca. um 17 Uhr weiterfahren nach Kanada und hat jetzt mit der Neubetankung angefangen. Da ich noch genau eine einzige Minute Internetguthaben besitze, will ich diese für ein letztes Abfragen meiner Emails verwenden und komme dabei auf die Idee, auch mein Passwort für den verlangten Update einzugeben. Mit zittrigen Fingern, aber doch behende, da die Zeit immer kostbarer wird, tippe ich dieses mit grösstmöglicher Aufmerksamkeit ein – es klappt! Vielleicht, denn eine Bestätigung bekomme ich nicht, aber die Aufforderung zur Passworteingabe verschwindet und kommt auch nicht wieder. Hurra, hurra, hurra, die Welt hat mich wieder! So, jetzt rasch überprüfen, ob die Verbindung über die mobilen Daten wieder klappt – Nein! Nichts hat sich geändert. Ich sterbe.



Auf Deck 7 treffen wir Max und Annemarie ein letztes Mal, als wir an der Statue of Liberty vorübergleiten.

Die beiden freuen sich ganz offensichtlich auf das, was kommen wird, derweil ich alles Mögliche, oder besser gesagt, immer wieder dasselbe, versuche, mein verfluchtes Telefon endlich zur Mitarbeit zu bewegen. Das Ufer ist zum Greifen nah und eine Verbindung müsste schon längst möglich sein. Nichts geht.

Die Beiden müssen schon vor uns von Bord, wir verabschieden uns, wollen einander vielleicht schon in New York irgendwo einmal treffen, bestimmt aber einmal in München und weg sind sie. Doch auch unsere Zeit ist bald gekommen, wir zeigen ein allerletztes Mal die Bordkarte, lassen die Queen hinter uns und nehmen sehr viele und schöne Erinnerungen mit uns mit.


Ich mache mich darauf gefasst, dass wir drei Stunden oder noch länger anstehen müssen beim Immigration Officer, dass er uns dann höchstens widerwillig und mit bösartiger, gründlichster Tiefenmusterung ins Land würde einreisen lassen, aber nein, es geht recht zügig. Nachdem wir unsere Koffer gefunden und gepackt haben, warten wir vielleicht ein halbes Stündchen (nein, die mobilen Daten wollen noch immer nicht, werde zu einem Apple-Shop gehen müssen, vielleicht setzen sie mir das iPhone neu auf?) und der Immigrierer lächelt (!) uns freundlich zu, als wir bei ihm vortraben, meint dann, New York habe sich seit meinem letzten Besuch vor ca. 35 Jahren stark verändert, sei viel sicherer geworden, wir geben ihm noch unsere Fingerabdrücke (elektrisch, also ohne sie einschwärzen zu müssen) und wusch sind wir in die USA eingewandert und spazieren als freie Bürger, wenn auch mit einem handicapierten iPhone in der Tasche, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Wir fahren mit der Fähre mutig los nach Wall Street, wo wir ein Taxi nehmen wollen, das uns dann ohne Stress und Hektik zum Times Square, besser gesagt, zur 40th Street fahren würde. Bei der Wall Street angekommen, finden wir (Verena) aber plötzlich, dass wir doch genauso gut die Subway nehmen und einen Haufen Geld sparen könnten. Wir schlagen uns mit unserem Gebäck also durch zur nächsten U-Bahn-Station, die gar nicht so einfach zu finden ist. Wie wir später bemerken, ist das bei allen U-Bahn-Stationen so, sie sind fast gar nicht gekennzeichnet und fristen ein sehr zurückgezogenes Dasein. Unten angekommen stehen wir vor einem Automaten, an dem sich Wochentickets kaufen lassen. Diese werden zwar nicht als solche angezeigt auf dem Display, da wir aber auf der Fähre erfahren haben, dass es keine Tagestickets gibt, wählen wir die am besten passende Option, zahlen mit der Maestrokarte der ZKB (klappt auf Anhieb) und sind ab jetzt stolze Inhaber einer Wochenkarte für je 33$, die für die Subway und die Busse gilt. Doch nun stehen wir vor der nächsten Hürde. Denn in Paris ist jeweils angegeben, wohin die einzelnen Metro-Züge fahren, was klar macht, in welcher Richtung sie unterwegs sind. Doch hier wird gerade mal die Nummer der Linie angegeben, die manchmal numerisch ist, manchmal auch aus Buchstaben besteht und dem tumben Mitteleuropäer könnte es durchaus passieren, dass er nach Süden fährt statt nach Norden, was unsere gewünschte Richtung ist und so fragen wir eine junge Lady, als wir auf dem Perron stehen, ob wir hier richtig seien. Leider weiss sie das auch nicht, sie bittet uns aber, kurz zu warten, denn sie wolle sich rasch mal informieren. Entschwindet und kommt gleich wieder, jawoll, alles gut, hier einsteigen bitte. Es ist sehr warm da unten, die Perrons sehr eng und nicht wirklich sauber, dafür ist die Beleuchtung so schummerig, dass man den Dreck gar nicht so gut sieht. Weniger tapfere Reisende könnte unter Umständen ein ungutes Gefühl beschleichen beim Anblick der immer wieder anzutreffenden, seltsamen Gestalten, die zweckfrei herumstehen und sich für alle Neuankömmlinge zu interessieren scheinen. Doch wir rattern in unserer Bahn unbeirrt dem Hotel entgegen, der altersschwache Wagen schleudert durch die engen Kurven, unser Zug wird manchmal von anderen überholt, es kommt vor, dass bis zu vier Züge parallel nebeneinander fahren und man ins Schwarze der Augen im gegenüberliegenden Zug blicken kann, bis dieser irgendwann in einer jähen Kurve in einem Tunnel verschwindet oder in dieser Geisterbahnanlage zurückbleibt.
Als wir die U-Bahn an der 42. Strasse verlassen, werden wir augenblicklich von einer riesigen Menschenmenge aufgefressen, die sich scheinbar ziel- und planlos, aber ganz ungestresst und relaxt in alle vier Himmelsrichtungen bewegt.



Nachdem wir zuerst in die falsche Richtung marschieren, müssen wir die paar Blocks wieder zurück, was mit dem ganzen Gepäck eine umständliche Angelegenheit ist, uns aber nicht von unserem Tatendrang abhält. Und wir finden unser „Fairfield Inn By Marriott Manhattan Times Square 330 West 40th Street“ im „Theatre District“, wo wir unser Zimmer beziehen und uns erst einmal einrichten. Es riecht genau wie vor 35 Jahren schon in jedem Motel der USA, eine Mischung aus Desinfektion, billigem Parfüm und frischer Wäsche und während ein paar Sekunden fühle ich mich in eine frühere Zeit versetzt. Die riesige Klimaanlage am Fenster trägt auch ihr Teil zur Belebung der Erinnerung bei und ist dabei, das Hotelzimmer in einen Tiefkühlraum zu verwandeln. Doch zum Glück lässt sie sich recht exakt einstellen und ich hoffe, dass sie uns nachts nicht wecken wird, wenn sie sich mit Getöse und Gebrumm einschaltet.
Wir wollen New York entdecken und stürzen uns in die Häuserschluchten. Links und rechts von uns liegt alles im Schatten, hier wird die Sonne wohl immer durch die unendlich hohen Fassaden der meisten Gebäude abgedeckt.


Wir bewegen uns mit der riesigen Menschenmasse langsam den Broadway hoch nordwärts, dem Central Park entgegen. Keiner schubst oder drängelt, obwohl der ohnehin knappe Platz auf dem Trottoir durch viele Baustellen und Imbissbuden zusätzlich beschränkt ist. Immer wieder kommt es auch vor, dass jemand einfach plötzlich stehen bleibt, weil ihm vielleicht eingefallen ist, dass er den Gashahn zuhause noch nicht abgedreht hat oder weil er halt grade Lust hat, stehen zu bleiben.
Das ist aber alles gar kein Problem, die Masse schlängelt sich in solchen Fällen geduldig links und rechts am Hindernis vorbei, bis sich dieses später wieder re-integriert. Wir kommen an unzähligen blinkenden, grellen Leuchtreklamen vorbei, die Luft riecht abwechselnd nach gebratenem Rindfleisch, Abgasen oder Krachmandeln und alle paar Meter will uns jemand einen Werbeprospekt für ein Theater oder eine Comedy-Show in die Hand drücken. Und es ist laut – man kann sich oft nur durch Schreien verständigen, denn der Lärm der praktisch pausenlos hupenden Autos, der schreienden Marktfahrer oder der schweren Motorräder, die ganz offensichtlich keinerlei Beschränkungen durch die Division of Motor Vehicles unterworfen sind, macht eine Unterhaltung ziemlich anspruchsvoll. Wir marschieren endlos lang, den Broadway immer weiter hoch Richtung Norden und kommen irgendwann, bereits auf schwächelnden Beinen, beim Columbus Circle an, wo wir die Möglichkeit hätten, uns von prächtigen Schimmeln gezogen in einer Kutsche durch den Central Park fahren zu lassen. Das reizt uns im Moment aber nicht wirklich und wir betreten den berühmt-berüchtigten riesengrossen Park, die grüne Lunge Manhattans, und befinden uns schlagartig in einer völlig anderen Welt.


Hier gibt es keinen Verkehr mehr, Leute machen Musik oder finden sich zum Fotografieren im Hochzeitskleid ein, wir sehen Jongleure, Imbissbuden, ein altes Karussell sogar, das allerdings fast leer vor sich hin dreht,

Fahrradfahrer ziehen gemächlich ihre Runden und viele Menschen liegen auf dem Rasen und lesen ein Buch oder eine Zeitung. Denn es ist immer noch angenehm warm, obwohl wir uns bereits im Oktober befinden, der aber deutlich wärmer und angenehmer ist als in der alten Heimat. Verena führt mich zielsicher, mit dem stets griffbereiten Reiseführer bewaffnet, zu einem grösseren See. Ein sehr reizvolles Bild bietet sich uns hier: im Hintergrund stehen die erhabenen Sky Scrapers der New Yorker Skyline und davor, durch gepflege Rasenanlagen begrenzt, fahren Ruderboote und sogar eine venezianische Gondel behäbig über den See in unterschiedliche Richtungen.



Beim „Loeb Boathouse“, direkt am See lassen wir uns nieder und bestellen ein Bier und dann noch eins und während ich mich mit dem Gedanken zu beschäftigen beginne, das iPhone wahrscheinlich neu aufsetzen zu müssen, beobachten wir die zahlreichen Leute in Gala-Uniform, junge Frauen in sehr, sehr kurzen Kleidchen und gepflegte Herren im schwarzen Anzug mit roter Nelke im Knopfloch. Wir nehmen an, dass sie sich hier zu einer Hochzeitsfeier treffen und gerade beim Apéritif angekommen sind. Wo die Sonne hinscheint, ist es angenehm warm, doch sobald sie durch eine Wolke verdeckt wird, herrschen doch empfindlich kühle Temperaturen, die den Festteilnehmern aber gar nichts auszumachen scheinen.
Und dann kommt die Erleuchtung! Mein Abo ist noch etwas älter als dasjenige Verenas und ich habe gar kein Roaming frei für die USA! Flugs bestelle ich bei der Swisscom ein 1 GB-Datenpaket für CHF 19.- und – oh Wunder, ich bin wieder mit der Welt verbunden, alles funktioniert aufs Perfekteste!! Mir fällt ein Fels vom Herzen.
Wir würden ja durchaus ganz gerne noch ein paar Bierchen mehr trinken und weiterhin den vielen schönen Menschen zuschauen, aber mir ist nicht wohl beim Gedanken, in der Dämmerung oder gar bei Dunkelheit durch den Central Park Richtung Fifth Avenue schlendern zu wollen und deshalb lassen wir der Vernunft den Vortritt und machen uns auf den Weg. Die Fifth Avenue ist tatsächlich eine Prunkstrasse erster Güte. Sie ist breit, mit ausladenden Trottoirs, vielen exklusiven, teuren Läden und nicht zuletzt steht links und rechts der Avenue ein dichter, alter Baumbestand, der die Luxusstrasse umsäumt. Vor dem Trump Tower, der durch zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten bewacht wird, sehen wir einen Witzbold in Trump-Verkleidung – er sieht verblüffend echt aus mit seinem Blondschopf, der roten Krawatte und dem vorwitzig vorgestreckten Kinn, seinem herablassend-arroganten Auftritt und auch mit der Art, in der er sich bewegt. Er geht auf dem Trottoir auf und ab, begrüsst Passanten und verschwindet dann wieder.



Wir marschieren endlos lang und unendlich weit, doch es gibt so viel Aufregendes zu sehen auf den Strassen, dass wir keine Subway nehmen, sondern den ganzen Weg zurück ins Hotel zu Fuss zurücklegen, wo wir dann nicht unfroh sind, eine saubere Toilette benützen zu können.


Eigentlich sind wir hauptsächlich deshalb zum Hotel zurückgekehrt, weil wir im hoteleigenen Restaurant essen und nicht noch lange etwas suchen wollen. Doch, oh Schreck, das Hotel hat gar kein Restaurant! Ein harter Schlag, denn gemäss iPhone haben wir bereits 14 km zu Fuss zurückgelegt und wären eigentlich froh, nicht noch mehr laufen zu müssen. Doch alles Wehklagen hilft nichts: wir müssen nochmals raus auf die Piste und finden in der Nähe das Ristorante „La Tavola“, wo wir endlich etwas zu essen bekommen. Es ist grausam laut in dem Lokal, doch wenn wir uns anbrüllen, können wir uns verständigen. Dafür ist aber die Rechnung ziemlich hoch und die vier Girls am Tisch schräg gegenüber irre gut drauf, sie kreischen und poltern, oh, my Goooooooood!, sind mal überaus entsetzt, was sich in grellen, spitzen Schreien äussert, dann wieder sehr vergnügt und wir finden es ja schön, dass sie es lustig zu haben scheinen.
Der Tag hat uns voll beansprucht, wir haben einen veritablen kleinen Kulturschock erlebt. So viele Menschen auf so wenig Raum, und eingebettet in konstantem Lärm, das sind wir nicht gewohnt – wer weiss, wie wir damit in den kommenden Tagen umgehen werden.
Das ist ja fast so voll wie im Niederdorf! Ich finde es ganz toll, dass Ihr so ausführlich schreibt. Mein letzter (und mit Sicherheit einziger) Besuch im Big Apple war 1979, da konnte man mit dem Fahrstuhl auf das damals gerade neue WTC fahren und 400m senkrecht nach unten schauen. Bitte den Blog noch weiter so interessant bedienen!
Gruß Frank
Was für ein toller Tag! Voll eingetaucht! Zum Glück geht dein Handy wieder, so bist du entspannt und kannst uns weiter berichten, Jürg!! Denn: wir wollen mehr!!😜
Hallo
Endlich habe ich heute Zeit euch hinterher zu lesen. Vielen Dank für die tollen, heiteren und spannenden Berichte.
Ich wünsche euch weiterhin viel Spass und gute Zeit in New York
Liebe Grüsse Lotte
Beeindruckend, die Ankunft in New York …
Kann mir vorstellen wie es den Einwanderern damals gegangen sein mag.
Ihr müsst abends mal in einen Jazzclub … tagsüber „das neue WTC“ …
in Chinatown die einzige verbliebene Pagodendachtelefonzelle …