Ich wecke Verena, die noch tief und fest schläft, weil ich das von Priska und Franz so gepriesene Frühstück nicht verpassen möchte – und stelle fest, dass es erst ca. halb vier Uhr morgens ist … no comment.

Dennoch sind wir rechtzeitig unten im Frühstücksraum und erleben gleich einen weiteren Schock. Der Raum hat etwa den Charme der Kantine einer Leichenhalle – es ist fürchterlich kalt, wenigstens in dem Teil, in dem wir sitzen (und dahin sind wir verbindlich hinbeordert worden durch die Lady am Eingang), die Beleuchtung ist genau dazu passend, die Tischchen winzig klein und aus billigstem, weiss gestrichenem Sperrholz. Zur Abrundung des Arrangements fassen wir „Geschirr“ und „Besteck“ aus lausigstem Plastik seen so far. Das „Messer“ ist so weich, dass die Butter damit fast nicht gestrichen werden kann, denn die ist im Gegensatz dazu ziemlich hart. An einer automatischen Toastmaschine können die Slices auf ein kleines Förderband gelegt werden, worauf sie durch das Gerät hindurch gemangelt werden und nach etwa einer Minute herunter plumpsen, wo sie aufgelesen werden müssen. Nicht unpraktisch, nur ist das Teil permanent in Betrieb, auch wenn gar kein Toast oder Brötchen eingelegt ist. Weise stellen wir fest, dass hier ein gewisser Mangel an Ökobewusstsein zu beklagen ist, was ja aber schon durch die Beschaffenheit des Gedecks mehr als deutlich klar geworden ist. Anderseits muss so nicht abgewaschen werden, es ist also keine Energie für die Warmwasseraufbereitung notwendig, hm, vielleicht ist die Ökobilanz doch gar nicht so eindeutig negativ? Ein Eggsbärde müsste her, ist aber gerade nicht verfügbar. Der „Käse“ schmeckt scheusslich, ebenso das „Omelett“, einzig der Vollkorntoast und die Joghurte kann ich als essbar taxieren. Verena ist etwas weniger picky als ich und hat bestimmt mehr von ihrem Frühstück. Ich nehme mir vor, das nächste Mal einen Pullover mitzubringen, um mir keine Lungenentzündung zu holen. Denn auch die neun grossformatigen Fernseher, die an den Wänden aufgehängt sind und ununterbrochen laufen, strahlen keinerlei spürbare Wärme ab.

Wir verlassen das Hotel und marschieren zum Westin-Hotel an der 42. Strasse, auf das wir im New York-Vortrag auf dem Schiff bereits hingewiesen worden sind und wo Verena eine Shopping Mall vermutet.

Leider treffen wir diese nicht an, bestaunen aber die aussergewöhnliche Architektur des Gebäudes mit dem unregelmässigen Sockel, der ein bisschen an den unteren Teil der Elbphilharmonie erinnert und dem Lauflicht, das diagonal die ganze Fassade hinaufjagt. Wir begegnen vielen sehr wilden Gestalten, zu 100% verkleidet als Exterrestrische oder Space Invaders, vielleicht sind sie Mitglieder einer Invasionsschwadron, die drauf und dran ist, sich die Welt untertan zu machen. Sie stehen überall herum und schreien laut oder machen schröckliche Gebärden, einer, diesmal ohne Verkleidung, brüllt mir „Don’t be afraid of black people“ in die bereits geplagten Gehörgänge, aber all diese Gestalten bleiben harmlos und friedlich. Was mit denen bloss los ist? Einen Schuss scheinen sie auf jeden Fall zu haben. Vielleicht traue ich mich später einmal, ein paar Fotos von ihnen zu knipsen. Nun ja. Wir wollen zum Empire State Building, das ein anständiger Tourist zweifellos besuchen muss, nehmen aber die Metro in die falsche Richtung und gelangen so unbeabsichtigt in jenes neue Gebiet, von dem uns im Vortrag auf dem Schiff schon vorgeschwärmt worden ist, nämlich zu den Hudson Yards. Und kaum sind wir der U-Bahn entstiegen, sehen wir es schon vor uns: das „Vessel“-Konstrukt, bestehend im Wesentlichen aus einer ringförmig angelegten Treppe, die sich langsam in die Höhe schraubt.

Der/die/das Vessel seitlich betrachtet

Unten sehen wir, dass es unlawful sei, wenn mehr als 700 Menschen gleichzeitig auf der Einrichtung herumturnen, wohl deshalb werden unten Eintrittstickets abgegeben, die Einlass nur während eines einstündigen Zeitfensters gewähren. Die Aussicht von oben ist beeindruckend – wir können den Hudson River sehen, aber auch gigantische Baustellen, wo in schwindelerregender Höhe gehämmert, abgerissen und neu aufgebaut wird, alles nicht gänzlich lautlos

natürlich und wir entdecken ein riesiges Gebäude, dessen Dach sich wegschieben lässt, da es über gewaltige Metallträger befestigt auf riesigen Rädern steht und damit mobil ist.

Verena braucht eine neue Hose und findet nach einer Stunde heraus, dass die amerikanischen Grössen nicht den europäischen entsprechen. Das macht ihr wieder neuen Mut, weil sie sich zuvor durch die Maximalgrösse 32 hat abschrecken lassen und gar keinen Versuch gewagt hat, irgendwo hineinzupassen. Im gefühlt zwölften Laden klappts’s dann aber (wahrscheinlich kauft sie hier für 200$ die teuerste Jeans ever) und wir dürfen „The Shops“ wieder verlassen. Verkaufstüchtig sind die Jungs ja, und wiederum sehr freundlich, Verena wird gefragt, wie sie heisst, woher sie kommt, wie es ihr geht, dann stellt sich der Verkäufer selber vor und lullt die unvorbereitete Touristin so natürlich in listige Fallen. Ich beobachte das Treiben aus sicherer Entfernung ausserhalb der Läden durch eine schützende Glasscheibe und bin froh, dass meine Jeans ganz vorzüglich passt. Verena erzählt mir anschliessend, dass sie ziemlich lange in der Umkleidekabine hat warten müssen, wo ihr immer neue Modelle angereicht worden sind, und dass sie sich etwas beobachtet gefühlt hat dabei und sie fragt sich, warum da ein iPad herumgehangen hat – komische Dinge für einen einfachen Mitteleuropäer. Verena findet die Hose zwar etwas eng, da aber ihr personal sales agent betont, das Beinkleid würde noch relaxen, wandert die Kreditkarte dennoch zum Counter. Ich habe unterdessen etwa zwei Stunden wertvollster Lebenszeit verbummelt und darf jetzt zur Krönung noch warten, bis Verena wieder aus dem Rest Room herauskommt, bei dem sie zuerst selbstverständlich ziemlich lang anstehen muss. Immerhin werden mir Stahlnerven bescheinigt, was meine leicht angespannte Stimmung sofort wieder verbessert.

Wir verlassen das Shopping Center durch einen Seitenausgang und hoffen, uns irgendwo in einem lauschigen Kaffee etwas ausruhen zu können. Aber von Lauschigkeit hält man hier offenbar nicht viel, auf jeden Fall finden wir nichts, was unseren Vorstellungen in irgend einer Form entsprechen würde und wir beschliessen, uns auf die High Line zu begeben. Dabei handelt es sich um eine parkähnliche Anlage, die um eine stillgelegte Eisenbahnlinie herum gebaut worden ist und jetzt von Freiwilligen unterhalten wird.

Und es sind nicht einfach nur hundert Meter, wie das bei uns vielleicht üblich wäre, nein, die High Line erstreckt sich vom Vessel bis an den Hudson in Chelsea und hat eine Gesamtlänge von über zwei Kilometern. Es ist tatsächlich überraschend, sich so plötzlich inmitten einer grünen Umgebung zu befinden und unter dem manchmal fast dschungelartigen Blätterdach könnte man sehr schön entspannen …

wenn nur die Abermillionen Menschen nicht wären. Manchmal ist an ein Fortkommen fast nicht zu denken, aber mit der Zeit gewöhnen wir uns doch ein bisschen daran und machen gute Miene zum nicht böse gemeinten Spiel.

Allerdings sind wir dem Zusammenbruch nahe, als wir irgendwann zum Ende der Anlage kommen und äusserst beglückt, an der 10. Strasse ein italienisches Restaurant zu finden, in dem wir uns sofort an einen Tisch setzen, sogar ohne erst die obrigkeitliche Bewilligung des diensthabenden Kellners abzuwarten. Vielleicht müssen wir deshalb zur Strafe etwas länger warten als die anderen, gar nicht so zahlreichen Gäste. Ich nutze die Zeit und verschwinde auf das auch hier nicht ganz so stille Örtchen, ohne allerdings die Technik zum Abschliessen der Tür zu durchschauen und kaum habe ich mich hingesetzt, poltert schon eine junge Frau herein, das heisst, sie will hereinpoltern, wird von mir aber noch rechtzeitig daran gehindert. Etwas peinlich ist das Ganze dennoch und ich bemühe mich, rasch wieder rauszukommen.

Den Chelsea-Markt, den Verena eigentlich etwas genauer besichtigen wollte, durchwandern wir dann auch, sind aber froh, dem Krach und dem Getümmel irgendwann wieder zu entkommen und durch den Verkehrslärm eintauschen zu dürfen.

Und dann kommen wir unverhofft in eine sehr reizvolle Umgebung mit niederen Backsteinhäusern und engen Strässchen, wir sind im Greenwich Village,

das noch vor kurzem der beliebteste Treffpunkt von Künstlern aller Art war – inzwischen sind viele von ihnen nach East Village gezogen, weil dort die Wohnungsmieten noch etwas erschwinglicher sein sollen. Wir finden eine total gemütliche Bar, die eine grosse Auswahl an europäischen Weinen, Schnäpsen und Bieren anbietet und wir tanken hier frische Energie. Diese reicht dann gerade noch für die Rückfahrt mit der Subway zu unserem Hotel, essen müssen wir nichts mehr.

Aber etwas dehydriert kommen wir an und wollen jetzt mal die Rooftop-Bar unseres Hotels erkunden. Diese befindet sich im 33. Stockwerk, in das nur ein einziger Lift fährt. Wir sind ganz offensichtlich noch etwas früh, denn wir treffen nur wenige Leute an, was aber gar nichts macht, weil wir auf diese Weise Platz direkt am Fenster finden. Schon ein eigenartiges Gefühl, ca. 20 cm neben dem Abgrund zu sitzen und darauf zu vertrauen, dass die Glasscheibe nicht plötzlich zerbirst, weil ein kleines Erdbeben daran knabbert.

Auch der Gedanke an den einzigen Lift stärkt mein Vertrauen in die ganze Angelegenheit nur unwesentlich. Und wenn ich sehe, dass das umstrittene und so populär gemachte Lauflicht im gegenüberliegenden Westin-Hotel immer wieder unterbrochen ist wegen defekter Glühbirnen oder was da sonst verbaut ist, kommt mir schon der Gedanke, dass so ein prestigeträchtiges Objekt im Land von HighTech und Fortschritt doch etwas liebevoller behandelt und gepflegt werden sollte – oder sind die New Yorker dazu vielleicht nicht fähig? Und was ist mit der ganzen maroden elektrischen Infrastruktur, die bekanntlich immer wieder zu Stromausfällen führt? Noch flackert, glimmt, gleisst und glüht die Stadt wie man sie aus den Hochglanzprospekten kennt, aber wie lange noch? Kann ganz schnell vorbei sein und dann sitzen wir da oben im Dunkeln und können nicht mal mehr munkeln.